„Die Schöpfung“ von einem Heiden


(Zitat aus „Das Röcheln der Mona Lisa“ von Ernst Jandl)

Beobachtungen eines „schnuppernden“ Chor-Mitgliedes

„Frohlocket dem Herrn! Halleluja!“

Meine Kollegen grinsen und antworten mit einem rezitativen „Amen!“ Das war nicht immer so. Als ich das erste Mal mit dieser frohen Botschaft das Büro betrat, trafen mich besorgte Blicke. Hinter vorgehaltener Hand wurden Erkundigungen über den Wandel meiner religiösen Einstellung eingezogen, ja – der eine oder andere zweifelte sogar an meinem Geisteszustand. Heute wissen sie: ich singe im apollo-chor salve musica e. V. – unter anderem: geistliche Musik!

„Sein Ruhm erschall‘ in Ewigkeit!“

Das Lernen der Texte fällt nicht schwer. Wenige Bausteine wechseln ab und wiederholen sich. Das „Amen“ zieht sich in endlosen Coloraturen in die Länge; die Herrlichkeit Gottes wird in immer neuen Variationen gepriesen.

verzweiflungSchwieriger ist es mit den Melodien. Wir proben „Die Schöpfung“ von Haydn unter Leitung von Christiane Sauer, personell verstärkt und verjüngt durch den Projektchor des Luisen-Gymnasiums. Zumindest für den Einsteiger ein hoch kompliziertes Werk mit einer Fülle von Halbtönen in Reihe – mal nach oben, mal nach unten, mit gestaffelten Einsätzen (auch Fuge genannt), Synkopen, Hemiolen und anderen musikalischen Raffinessen, die ich bis dato allenfalls vom Hörensagen her kenne.

„Falsche Töne sind einzig und allein mein Problem!“

Das verkündet Christiane Sauer in regelmäßigen Abständen, wieder und wieder, und unterbindet so Aussetzer und Grabenkämpfe untereinander. Zugegeben, die Proben sind zermürbend! Die Mitglieder des Chores sind im Alter zwischen 12 und 87 Jahren, ein Drittel von ihnen Jugendliche. Keine Profis und für viele findet hier die erste Begegnung mit der klassischen Musik statt. Bei manchen Passagen, speziell in den hohen Stimmlagen, geht es so schrill zu, dass man sich am liebsten die Ohren zuhalten möchte; Einsätze werden verpasst und mit der bangen Frage: „Bin ich noch richtig?“ wandert der ratlose Blick zur Seite: „Weiß hier noch irgendwer, wo wir sind?“ Nur der Respekt gegenüber den Mitstreitern verbietet die Verwendung von Oropax.

Frage nach Sinn und Zweck des Probenstresses

Allein der unerschütterliche Optimismus unserer Chorleiterin lässt die Frage nach Sinn und Zweck dieser Quälerei nicht aufkommen. Ausgebildet in Gesang und in jeder Stimme zu Hause, demonstriert sie mit spielerischer Leichtigkeit und jubelndem Enthusiasmus die schwierigsten Passagen. Weniger jubelnd, aber dafür mutig, unser Echo – angespornt von Christiane: „Mund auf und Kopf vor; von oben auf den Ton draufspringen; ich hab‘s doch gesagt: Ihr könnt das! Warum nicht gleich so?“ Und siehe da, das Ergebnis ist passabel oder zumindest besser als vorher. So sprießt auch in mir, der „Neuen“, das zarte Pflänzchen des Glaubens: Der Glaube an das Gelingen.

Weiterer Lernprozess

In den folgenden Monaten lerne ich, dass man kein „Ei legen“ soll, sondern dass, wo immer ein „ei“ auftaucht, es mehr zum „aaaai“ gesungen werden muss; dass es „Spannungsbögen“ gibt, innerhalb derer das Atmen auch bei maximalem Sauerstoffmangel verboten ist; dass es nicht Prach‘, sondern Prach!T! heißt und dass auch in bekleide!T!, bleib!T!, ja, sogar bei un(d) !T! genau dieses „t“ vorkommt und auch durch exaktes Absprechen zu hören sein muss! „Leute, das könnt ihr besser!“ Erbarmungslos wird schon nach der ersten Phrase abgewunken: „Wo bleiben die „t‘s“? Und übrigens versteh‘ ich gar nicht, warum immer noch Einige an den Noten kleben: da steht mehrfach „in Ewigkeit“, das geht auswendig! Wie wollt ihr rechtzeitig einsetzen, wenn ihr nicht rausguckt!“

Erste Orchesterprobe

Dann die erste Orchesterprobe in der Klosterkirche der Franziskaner: Christiane Sauer, wie üblich ganz in schwarz, Minirock und schwarzen Netzstrümpfen und einer roten Rose im hochgetürmten blonden Haar, steht mit funkelnden Augen auf einem hölzernen Podest vor Chor und Orchester. Sie dirigiert unter Einsatz ihres gesamten Körpers und webt, wie eine Marionettenspielerin, an unsichtbaren Fäden ziehend, Instrumente und Chorisches zu stimmungsvollen Klängen ineinander.

Der Auftrittsort

Ich habe Zeit, mich umzusehen. Die Klosterkirche ist schlicht. Nur weniges fesselt die Aufmerksamkeit. Statt der obligatorischen Darstellung des gekreuzigten Jesus mit blutender Wunde findet sich ein abstraktes Bildnis von durchstoßenen Händen und Füßen auf dem Holzkreuz. Die Wände sind weiß und nahezu schmucklos, die Holzbänke mit ihren Kniebänkchen davor, weder verziert noch lackiert. In der benachbarten Marienkapelle die Beichtstühle, in deren braunen Vorhängen der Geruch von Jahrhunderten zu hängen scheint.

Im seltsamen Kontrast dazu – und den kirchlichen Inhalten zum Trotz – der Einbruch des Weltlichen in Form unserer Proben: Frauen, Männer, Miniröcken, Schminke und fröhlichen Plaudereien und im Nebenraum Platten mit belegten Broten. Auch in langer Nacht soll niemand darben!

Die Zaungäste

Ein paar Zuhörer haben sich auf den harten Bänken niedergelassen – unter ihnen auch der ein oder andere Franziskanerbruder in brauner Kutte. Ihr stoischer Gesichtsausdruck, mit dem sie den Lobpreisungen lauschen, verurteilt jede Spekulation über den Inhalt ihrer Gedanken zum Scheitern. Mein Blick wandert zwischen dem gewagten Outfit unserer Dirigentin und den Gesichtern der Mönche fragend und ergebnislos hin und her, als Christiane wieder mal nach wenigen Harmonien abwinkt: „Wenn ich anzeige und will, das ein Ton ausgehalten wird, dann wird er ausgehalten! Selbst dann, wenn ich mich verzählt habe!“ verkündet sie aufgebracht: „Ihr müsst damit rechnen, dass ich mal ein anderes Tempo vorgebe, die Dynamik ändere oder Notenwerte verlängere. Trotzdem müsst ihr mitgehen! Wir beginnen wieder in Takt 73!“

„Gesegnet sei des Herren Macht!“

Mit diesem stimmungsvollen Choral geht die Probe gegen Mitternacht zu Ende und wir machen uns nach den letzten Anweisungen für den kommenden Auftritt mit einem mulmigen Gefühl auf den Weg nach Hause.

„Mit einmal geht alles so schnell!“ sagt jemand. „Ja, und dann ist alles viel zu schnell wieder vorbei!“ sagt eine andere. Sie scheint das Prozedere bereits zu kennen. An Hand des Stundenplanes weiß auch ich: es wird ein anstrengendes Wochenende und tröste mich in Gedanken: „Noch drei Tage, und dann hast du es hinter dir.“

„Vollendet ist das große Werk!“

Der große Tag ist da und meine Selbstzweifel steigern sich: Warum tust du dir das an! So viel Arbeit und dann die Aufregung vor dem Auftritt, diese sich ständig steigernde Nervosität, wenn man nichts zu tun hat! Aber dann, oh Wunder! Die Kirche ist voll besetzt! Die quälenden Gedanken verstummen. Ich hefte mich an die Fersen meiner Alt-Nachbarin mit dem wuscheligen Lockenkopf und wir formieren uns mit den Anderen auf den steinernen Treppenstufen des Altarraums.

dirigatIn der Kirche ist es still geworden. Die Solisten, gefolgt von der Dirigentin, betreten den Kirchraum vom hinteren Teil her und schreiten im Mittelgang auf den Altar zu. Christianes roten Schuhen mit hohen Absätzen klackern gedämpft auf dem Steinboden. Die Zuhörer haben Zeit, ihr Outfit zu bewundern: nein, kein Minirock, bodenlange, hauchdünne Robe, alles in rot, auch die hochgetürmte Frisur mit einer roten Kette umschlungen, geradezu hoheitsvoll!

Sie besteigt das Dirigentenpult, hebt die Arme und lächelt uns aufmunternd zu – die deutliche Botschaft an jeden Einzelnen: Wir schaffen das! Die Musik braust auf – mit der Ouvertüre vom Chaos – und nun zählt nur noch eins! Das Gelingen.

Der Erfolg

Und es gelingt. Spätestens beim Schließen der Notenbücher, die Stille … lange nach dem letzten Ton, kommt Euphorie auf: volles Haus, stehende Ovationen und Zugabe … Respekt den Zuhörern! Nach geschlagenen zwei Stunden applaudieren sie anhaltend und wollen sogar ein Zugabe!

„Singt dem Herren alle Stimmen! Dankt ihm, dankt ihm alle seine Werke!“ Wir singen mit Macht! Die Botschaft an das Publikum: „Singt alle mit!“

Das Fazit

„Wir sind keine Maschinen!“ erklärt Christiane bei wahrhaft fürstlichem Mahl – von vielen fleißigen Händen bereitet und der Armenküche der Franziskaner aufgetischt. „Wir wollen Menschen mit unserer Musik berühren – ob Zuhörer oder Aktive – und das ist uns gelungen!“

Maria Diederichs