Über die „Misatango“


Aus dem Programmheft

EINE EINFÜHRUNG IN DAS KONZERT 2015

Bach: Tripelkonzert und Palmeri: Mistango

von Gisela Bölling

Das heutige Konzert schlägt einen großen zeitlichen und musikalischen Bogen, indem es ein Instrumentalwerk von Johann Sebastian Bach (1685-1750) und die Messe eines zeitgenössischen argentinischen Komponisten, Martín Palmeri, nebeneinanderstellt.
Johann Sebastian Bach hat die Zeitlosigkeit seiner Musik längst unter Beweis gestellt. Max Reger bezeichnete ihn als „Anfang und Ende aller Musik“. Martín Palmeri muss sich seinen Platz in der Musikwelt erst noch erarbeiten. Auf jeden Fall ist es lohnend, sich mit der Musik dieses Komponisten zu beschäftigen, der in diesem Sommer 50 Jahre alt wird. Freuen wir uns also auf einen spannenden Konzertabend.

TRIPEL CONCERTO A-MOLL VON JOHANN SEBASTIAN BACH

Bachs umfangreiches musikalisches Schaffen hat Generationen von Musikern und Musikwissenschaftlern beschäftigt. Daher sollte man annehmen, dass sein Leben und seine Kompositionen bis ins letzte Detail erforscht seien. Das ist aber nicht der Fall. Bei dem Tripelkonzert a-Moll für Cembalo, Flöte, Violine mit Streichern und Basso continuo (BWV 1044) sind sich die Experten überhaupt nicht einig, wann und wie das Werk entstanden sein könnte. Bis heute gibt es nur wenige gesicherte Erkenntnisse. So lässt sich z. B. nachweisen, dass der erste und der dritte Satz des Tripelkonzerts auf Präludium und Fuge a-Moll für Cembalo (BWV 894) zurückgehen und dass der langsame Mittelsatz aus dem Adagio e dolce der Orgeltriosonate in d-Moll (BWV 527) hervorgegangen ist. Ein solcher Rückgriff auf frühere Kompositionen ist für Bach und seine Zeitgenossen eine durchaus gängige Praxis, die der schöpferischen Qualität der Werke keinen Abbruch tun muss.

Worum geht es nun beim Streit der Experten? Zum einen weiß man nicht, in welcher Schaffensperiode das Tripelkonzert entstanden ist, zum anderen wird sogar von einem Autor bestritten, dass es in dieser Form überhaupt von Bach geschrieben wurde. Vielmehr handele es sich um eine nachträgliche Bearbeitung durch einen seiner Schüler, deren Vorlagen allerdings zweifellos von Bach stammen.

Während die meisten Experten nicht daran zweifeln, dass das Tripelkonzert a-Moll in dieser Form von Bach komponiert wurde, sind sie sich in der Frage der Datierung gar nicht einig. In dieser Debatte spielt die Frage, ob Bach das Werk vor oder nach seinen berühmten Brandenburgischen Konzerten (vor 1721) komponiert hat, eine große Rolle. Die Diskussion darüber ist deshalb besonders lebhaft, weil es interessante Parallelen zwischen dem Tripelkonzert a-Moll und dem fünften Brandenburgischen Konzert D-Dur (BWV 1050) gibt. Das gilt sowohl für die Besetzung mit drei Soloinstrumenten – Cembalo, Violine und Flöte – als auch für die herausragende Stellung des Cembalos, die noch durch umfangreiche Kadenzen verstärkt wird. Minutiös werden in dieser Auseinandersetzung einzelne Passagen durchleuchtet, um die vorgenommenen Datierungen zu begründen.

Der Streit der Musikwissenschaftler ist gewiss spannend zu lesen, aber er sollte heute nicht im Mittelpunkt unseres Interesses stehen. Freuen wir uns an der herrlichen Musik, ohne uns den Musikgenuss durch das Nachgrübeln über ihre Entstehungsgeschichte verderben zu lassen.

MARTÍN PALMERI UND DIE MISA A BUENOS AIRES – MISATANGO

Martín Palmeri wurde am 19. Juli 1965 in Buenos Aires geboren. Er entstammt wie so viele Argentinier einer Einwandererfamilie aus Europa. Seine Vorfahren waren aus Italien und Dänemark nach Argentinien gekommen. Er erhielt eine fundierte musikalische Ausbildung auf den Gebieten der Komposition, des Gesangs sowie der Orchester- und Chorleitung. Sein Studium bei namhaften Künstlern führte ihn von Argentinien nach Italien und in die USA. Auf dieser Basis hat Palmeri inzwischen ein umfangreiches musikalisches Werk geschaffen, das Opern, Oratorien, Chor- und Orchesterkompositionen umfasst. Seine Werke wurden vielfach bei nationalen und internationalen Wettbewerben ausgezeichnet.

Palmeris Kompositionen sind durch Form und Harmonik des sogenannten „Tango Nuevo“ seines Landsmanns Astor Piazzolla inspiriert. Die Misa a Buenos Aires – Misatango ist Palmeris bekanntestes Werk. Sie wurde bereits in vielen Ländern aufgeführt. Für den Kölner Domchor z. B. gehört die Tango-Messe fest zum Repertoire. Sie ist in Latein verfasst und folgt dem klassischen Aufbau einer Messe, wie wir sie aus den Messen von Haydn und Mozart kennen. Die Orchesterbegleitung, bestehend aus Saiteninstrumenten, Piano und Bandoneon, folgt jedoch dem Vorbild des Tango. Mit der Verbindung von Tango Nuevo und kirchlicher Liturgie betrat Palmeri Neuland, als er 1995/96 diese Messe komponierte. Er war damals erst 30 Jahre alt.

Eine besondere Ehre war für Palmeri, dass die renommierte Stiftung „Pro Musica e Arte Sacra“ 2013 ihr alljährliches Kunst- und Musikfestival in Rom mit seiner Misatango eröffnete. Dieses 12. Festival war dem neuen aus Argentinien stammenden Papst Franziskus gewidmet, von dem bekannt ist, dass er die Musik seiner Heimat besonders liebt. Die Aufführung in der römischen Jesuitenkirche, der Basilika des Heiligen Ignatius von Loyola, war zweifellos ein Höhepunkt in Palmeris Karriere. Es musizierten der Kölner Domchor und das Gürzenich-Orchester Köln unter Leitung von Domkapellmeister Eberhard Metternich.

WAS IST TYPISCH FÜR DEN ARGENTINISCHEN TANGO?

Der Tango Argentino ist zugleich Tanz und Musikrichtung sowie eine spezifische Form der Dichtung, das Tangolied. Er entstand während des 19. Jahrhunderts im Milieu aus Einwanderern und landflüchtigen Bauern und Viehhirten in den großen Städte am Rio de la Plata, Buenos Aires und Montevideo. In den trostlosen Vorstädten der aus allen Nähten platzenden Metropolen wurde er zum Ausdruck existentieller Not und menschlicher Einsamkeit. Enrique Santos Discepolo (1901–1951), einer der bekanntesten Tangokomponisten Argentiniens, bezeichnete einmal den Tango als„traurigen Gedanken, den man tanzen kann“.

In Argentinien galt der Tango lange als die Musik der zwielichtigen Hafenkneipen und wurde von der Oberschicht des Landes abgelehnt. Als der Tango vor dem Ersten Weltkrieg in Europa in Mode kam, gab der argentinische Botschafter in Paris, Enrique Larreta, einem englischen Journalisten ein Interview. Darin sagte er: „Der Tango ist in Buenos Aires ausschließlich ein Tanz schlecht beleumdeter Häuser und Tavernen der übelsten Art. Niemals tanzt man ihn in anständigen Salons oder unter feinen Leuten.“

Der Tango als Musikform ist bestimmt durch die markanten Rhythmen und das Tempo der Musik, die die Einwanderer aus ihren Heimatländern mitbrachten. Außerdem ist er geprägt durch die Klangfarbe des Tangoorchesters, der„Orquesta Típica“, das sich von einem klassischen Orchester durch die Zusammenstellung der Instrumente unterscheidet. Ein Tangoorchester besteht aus Piano, Saiteninstrumenten und Bandoneon. In der Frühzeit des Tango gehörten auch noch Gitarre und Querflöte dazu. Ab den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Tango mehr und mehr von professionellen Musikern gespielt und technisch verfeinert. Radio und Schallplatten trugen zu seiner größeren Verbreitung bei.
Aber erst durch die Verbindung der argentinischen Folklore mit dem Jazz und der europäischen Kunstmusik, wie sie Astor Piazzolla (1921–1992) seit den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts schuf, hielt der Tango Einzug in die Konzertsäle der Welt. Astor Piazzolla modernisierte den Tango, indem er auf harmonische Neuerungen zurückgriff, wie er sie z. B. bei Igor Strawinsky und Béla Bartók fand.

DAS BANDONEON

Eine ganz besondere Bedeutung kommt in der Tangomusik dem Bandoneon zu, einem engen Verwandten des Akkordeons. Dieses Instrument stammte ursprünglich aus Deutschland. Es wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts von dem Krefelder Musiklehrer Heinrich Band entwickelt. Sein Verdienst war es, den Tonumfang der damals gebräuchlichen Konzertina genannten Instrumente erheblich zu erweitern. Das nach ihm benannte Bandoneon wurde sehr schnell über die Stadtgrenzen Krefelds hinaus in ganz Deutschland bekannt und geschätzt. Band verbesserte den Tonumfang von 106 auf 112, dann auf 128 und zuletzt auf 130 Töne. 1924 wurde vom Deutschen Konzertina- und Bandoneon-Bund ein sogenanntes „Einheitsbandoneon“ mit 72 Tasten und 144 Tönen festgelegt. Die Tasten sind wechseltönig, was bedeutet, dass beim Auseinanderziehen und Zusammendrücken unterschiedliche Töne erzeugt werden. Während das Bandoneon in Deutschland seine frühere Popularität verloren hat, ist es aus der argentinischen Folklore nicht weg zu denken. Am heutigen Abend werden wir statt eines Bandoneons ein Akkordeon hören. Die beiden Instrumente sind im Klang ähnlich, aber äußerlich gut zu unterscheiden, wie man den Abbildungen entnehmen kann.

Gisela Bölling